Die Relevanz der ersten drei Lebensjahre bei Kindern
Grundlagen der frühkindlichen Entwicklung
Für die Entwicklung eines Kindes spielt die Kindheit mit ihren unterschiedlichen Phasen und Lernmöglichkeiten eine wesentliche Rolle. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei den ersten drei Lebensjahren zu. Hier werden die Grundlagen für sämtliche nachfolgenden Entwicklungsschritte gelegt. Sie sind prägend und nehmen Einfluss auf den gesamten Lebensweg.
Das Fundament der ersten drei Lebensjahre bezieht sich nicht nur auf allgemeine Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es umfasst vielschichtige Phasen der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung. Vor allem die frühen Bindungserfahrungen spielen eine zentrale Rolle. Sie entscheiden über Vertrauen und Selbstwerterleben und lassen sich nicht einfach zu einem späteren Zeitpunkt "nachholen".
Biologische und umweltbedingte Faktoren
Sowohl biologische Merkmale als auch die unmittelbare Umwelt eines Kindes sind charakteristisch für alle frühkindlichen Entwicklungsphasen. Die Biologie trägt in Form genetischer Anlagen dazu bei, auch neurobiologische Reifungsprozesse spielen eine zentrale Rolle, gleichermaßen das große Spektrum der Hormone. Die Ausdrucksformen des Temperaments werden ebenso durch die erbliche Prädisposition geprägt wie die kognitiven Möglichkeiten und Fähigkeiten eines Kindes.
Für die Entwicklung von Motorik, Sensorik und Emotionen sind hingegen die neurobiologischen Entwicklungen bedeutsam. Sie wirken sowohl auf die geistige Gesundheit als auch auf das Verhalten und das Lernen.
Die umweltbedingten Faktoren gelten als relevant für den Reifeprozess und die einzelnen Entwicklungsschritte. Dazu zählen alle Formen der sozialen Interaktion in Familie und Alltag, aber auch die Lernerfahrungen, die ein Kind macht, und die jeweiligen kulturellen Einflüsse, in denen es aufwächst. Gerade die Beziehungsqualität und die Vielfalt der Anregungen, die aus der unmittelbaren Umgebung kommen, sind wichtig. Sie definieren die Möglichkeiten für ein aktives Mitgestalten der Umwelt und nehmen gleichzeitig Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns.
Zugewandte Bezugspersonen und eine hohe Qualität der Pflege und der Sorge für ein Kind sind essenziell für seine Möglichkeiten, die eigenen intellektuellen und auch sozialen Fähigkeiten zu entwickeln und zu nutzen. Ein belastendes Umfeld hingegen mit wenig Anregungen und geringer Zuwendung wirkt sich langfristig negativ auf den weiteren Entwicklungsverlauf aus.
Frühkindliche Entwicklungsphasen
Kinder durchlaufen während ihrer Kindheit unterschiedliche Entwicklungsphasen. Jede einzelne ist mit dem Erwerb bestimmter Fertigkeiten und Fähigkeiten verbunden. Die ersten drei Lebensjahre sind dabei ausschlaggebend für den weiteren Verlauf der sensorischen, motorischen, sprachlichen und kognitiven Entwicklung. Gleiches gilt für die emotionalen und die sozialen Reifungsprozesse. Die Phasen sind nicht statisch zu verstehen, sondern gehen meist fließend ineinander über.
Im ersten Lebensjahr sind vor allem die sensorische und die motorische Entwicklung vorherrschend. Der Säugling entdeckt seine Welt über das Greifen nach Gegenständen, das Hin- und Herdrehen seines Körpers bis hin zu ersten Sitz- und Krabbelversuchen. Im Bereich der Sprachentwicklung steht das Lallen und Lautieren am Anfang. Kommunikation ist bereits äußerst wichtig und wird über Gesten und Laute eingeübt. Bezugspersonen kommt hier durch Spiegeln und Ermutigen eine wichtige Funktion zu.
Das zweite Lebensjahr steht ganz im Zeichen der kognitiven und emotionalen Entwicklung. Kinder erwerben einen Wortschatz von etwa 200 bis 300 Wörtern und sind in der Lage, einfache Zusammenhänge nachzuvollziehen. Im Bereich der emotionalen Entwicklung erleben sie ein großes Bedürfnis, sich auszudrücken, bei gleichzeitig häufiger Frustration, Gefühle noch nicht sinnvoll auf sprachlicher Ebene mitteilen zu können. Auch das Spielen nimmt einen wichtigen Bereich im Leben der Kinder ein und vermittelt vielfältige soziale Fähigkeiten.
Im dritten Lebensjahr entwickeln Kinder zunehmend ein Gefühl dafür, wer sie sind. Diese Zeit liefert wichtige Impulse für die Identitätsentwicklung und auch den Wunsch nach Autonomie. Das Bedürfnis nach Wissen und Verstehen wächst, die Zeit des Fragens beginnt. Durch das wachsende Sprachverständnis können sich Kinder zunehmend komplexer ausdrücken. Auch das Spielen gewinnt an Kreativität und bereichert den Alltag zunehmend. Wesentlich sind auch die beginnenden Fähigkeiten, kleinere eigenständige Entscheidungen zu treffen. Bezugspersonen können hier viel Unterstützung ermöglichen, indem sie Kindern Auswahlmöglichkeiten aufzeigen und ihnen immer wieder Alternativen zur Wahl anbieten.
Bindung und Bezugspersonen
Die Bedeutung der Bezugspersonen kann für die Entwicklung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren nicht hoch genug angesehen werden. Die wichtigsten Vorreiter zu diesem Thema waren John Bowlby (Kinderpsychiater) und Mary Ainsworth (Psychologin), die durch komplexe Tests und Beobachtungen verschiedene Bindungstypen identifizierten. Sie stellten dabei fest, dass eine sichere Bindung gerade in den ersten Lebensjahren essenziell für die Entwicklung von Sicherheit und Vertrauen ist. Je liebevoller und zugewandter die Bezugspersonen sind, desto sicherer ist die Basis, von der aus Kinder ihre Welt entdecken können. Dabei nimmt die Qualität frühkindlicher
Bindungsbeziehungen wesentlichen Einfluss auf die gesamte weitere emotionale, soziale und auch kognitive Entwicklung.
Ist eine Bindung unsicher, instabil und wenig unterstützend, sind vielfach Ängste, Auffälligkeiten im Verhalten und tiefe Verunsicherungen bei den Kindern die Folge. Das kann bis in das spätere Erwachsenenleben hineinreichen, weil positive soziale Interaktionen nur unzureichend entwickelt wurden. Gerade eine sichere Bindung, die emotionale Stabilität bietet, ist für ein Kind unverzichtbar, nicht zuletzt auch für die eigene Selbstregulation.
Kognitive Entwicklung
Die frühkindliche kognitive Entwicklung stellt entscheidende Weichen für die zukünftigen intellektuellen Möglichkeiten. Kinder sind mit zahlreichen Eindrücken und Veränderungen konfrontiert. Sie nehmen ihre Umwelt wahr, lernen sie zu verstehen und darin zu interagieren. Denkprozesse, Gedächtnisleistungen und zunehmende Fähigkeiten der Problemlösung nehmen einen wichtigen Raum ein und bilden den Hintergrund für weitere Lernvorgänge. Sowohl die differenzierte Entwicklung der Sprache als auch die Möglichkeiten, die das Spiel bietet, setzen zentrale Impulse für die kognitive Entwicklung.
Grundlagen in den ersten Lebensjahren
Die maßgebliche Theorie der kognitiven Entwicklung des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget definiert vier Entwicklungsstadien zu verschiedenen Altersstufen bei Kindern. Hier bildet das sensomotorische Stadium in den ersten beiden Lebensjahren den Anfang. Kinder lernen einerseits durch ihre Sinneserfahrungen und andererseits durch ihre alltäglichen motorischen Aktivitäten. Eine besonders relevante Erkenntnis ist das Verständnis von der sogenannten Objektpermanenz, die ungefähr im Zeitraum von 8-12 Monaten einsetzt. Kinder begreifen, dass Objekte auch dann noch existieren, wenn sie aktuell nicht sichtbar sind. Dieses Bewusstsein ist Voraussetzung für das symbolische und abstrakte Denken.
Im Bereich von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit lernen Kinder, visuelle Reize gezielt zu fokussieren. Sie sind in der Lage, Menschen vor allem anhand ihrer Gesichtsmerkmale voneinander zu unterscheiden und Geräusche zu erkennen. Je stimulierender dabei das Umfeld ist, in dem sich die Kinder bewegen, desto früher beginnt die Entwicklung vielfältiger kognitiver Fähigkeiten. Bezugspersonen können Kindern gezielt Anregungen bieten, etwa in Form von einfachen Ratespielen, dem Verstecken und Suchen von positiv besetzten Gegenständen und ähnlichem mehr.
Frühkindliche Sprachentwicklung
Der Beginn der sprachlichen Entwicklung setzt bereits vor der Geburt ein. Das Hören der Stimme der Mutter ist dabei ein wichtiger Zugang. Im Verlauf der ersten Lebensmonate sind Säuglinge in der Lage, verschiedene Laute voneinander zu unterscheiden und auf erste sprachliche Reize zu reagieren. Lallgeräusche setzen in der Regel ab dem dritten Lebensmonat ein. Dies gilt als der konkrete Beginn der eigenen aktiven Produktion von Sprache. Der Säugling probiert sich aus und experimentiert mit
den unterschiedlichsten Lauten und gleichermaßen Lautkombinationen. Bezugspersonen sind hier wichtige Impulsgeber, indem sie liebevoll mit Kindern sprechen und Freude zeigen, wenn eine lautierende Reaktion erfolgt. Diese Bestätigung hilft nicht nur bei der Intensivierung der Bindung, sondern zeigt Kindern auch, dass sie wahrgenommen und gehört werden.
Mit etwa 12 Monaten beginnt das Verstehen und ebenso das Produzieren erster Wörter. Der frühe Wortschatz zeigt sich zunächst vor allem bedürfnisorientiert und bezieht sich auf Menschen in der unmittelbaren Umgebung und auch auf Objekte. In der nachfolgenden Zeit geschieht das Erweitern des aktiven Wortschatzes zunächst langsam, verbessert sich jedoch merklich und besonders rasant ab dem zweiten Lebensjahr. In der Sprachentwicklungsforschung gibt es dafür den Begriff "Wortschatzspurt". Einfache kurze Sätze werden im dritten Lebensjahr gebildet. Auch die Verwendung grammatikalischer Strukturen nimmt zu. Für die Sprachentwicklung ist die Unterstützung durch andere Menschen unverzichtbar. Gemeinsame Gespräche gehören ebenso dazu wie Singen und das Erzählen von Geschichten. Je mehr Input von außen, desto wichtiger für die Entwicklung der Sprache und die gesamte kognitive Entwicklung.
Die Rolle des Spiels
Das Spiel bietet Kindern die Möglichkeit, ihre Umwelt zu entdecken, sozial zu interagieren und ihre eigenen Problemlösefähigkeiten zu entwickeln. Es stellt einen sicheren und dabei natürlichen Rahmen dar, in dem sie ihre neuen Fertigkeiten und Fähigkeiten ausprobieren können. Dabei stehen die unterschiedlichsten Spielformen zur Verfügung, beispielsweise das Rollenspiel oder Konstruktionsspiele. Sie alle helfen Kindern dabei, verschiedene soziale Verhaltensweisen (Empathie, Verständnis) sowie motorische Fähigkeiten und räumliches Denken zu erlernen.
In den ersten Lebensmonaten sind Funktionsspiele, dabei vor allem das Entdecken von Objekten und das Greifen, im Fokus. Im weiteren Verlauf entsteht die kognitive Reife, und Kinder nutzen verstärkt symbolische Spieloptionen, etwa einen Bauklotz, der einen Tisch symbolisiert. Durch das Spiel wird abstraktes Denken ausgebildet und die sensomotorische Entwicklung unterstützt. Wird Kindern ein Zugang zu vielfältigen Spielmöglichkeiten angeboten, können sie ihre Kreativität umfassender entwickeln. Auch die Fähigkeiten der Problemlösung sind komplexer.
Emotionale und soziale Entwicklung
Zwischen der emotionalen und sozialen Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren und den Beziehungserfahrungen besteht ein enger Zusammenhang. Kinder lernen nach und nach, ihre Emotionen zu regulieren und gestalten ihre sozialen Interaktionen aktiv. Dabei spielen sowohl die Erfahrungen mit den Bezugspersonen eine wichtige Rolle als auch der Umgang mit Gleichaltrigen.
Die Bedeutung der Bindungstheorien
Die von Ainsworth und Bowlby entwickelten Bindungstheorien sind bis heute unverzichtbar für ein umfassendes Verständnis der ersten drei Lebensjahre. Die Qualität der Bindung zwischen primärer Bezugsperson und dem Kind ist relevant für das zukünftige Leben. Die individuellen sozialen und emotionalen Kompetenzen werden maßgeblich von den frühen Bindungserfahrungen beeinflusst.
Bindung gilt als ein grundlegendes Bedürfnis aller Menschen, vergleichbar mit dem Bedürfnis nach Sicherheit oder Nahrung. Kinder, die nicht die Möglichkeit haben, im Rahmen einer sicheren Bindungserfahrung aufzuwachsen, können keine ausreichende emotionale Stabilität und meist auch kein umfassend empathisches Verhalten ausbilden. Sie haben später Schwierigkeiten, ihre Affekte zu kontrollieren und zu regulieren, und tun sich schwer darin, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Positive Bindungserfahrungen im weiteren Lebenslauf können einen günstigen Einfluss nehmen, jedoch die so wichtigen Entwicklungserfahrungen der ersten drei Lebensjahre nicht aufholen.
Entwicklung der emotionalen Fähigkeiten
Um ein emotional stabiler und gesunder Mensch zu sein, ist der Erwerb emotionaler Kompetenz zentral. Kinder lernen durch Interaktion mit ihren Bezugspersonen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und zunehmend auch zu deuten. Die Rückmeldung der Umwelt hilft dabei, emotionales Erleben zu verstehen und Strategien zu entwickeln, um beispielsweise mit Enttäuschungen oder auch Stresssituationen sinnvoll umzugehen.
Auch das Begreifen von Verschiedenheit im Umgang mit Emotionen ist eine wichtige Erfahrung. Kinder verstehen nach und nach, dass jeder Mensch eine ganze eigene Emotionalität hat und nicht alle auf die gleiche Weise mit ihren Gefühlen umgehen. Eltern und Bezugspersonen allgemein können Kinder unterstützen, indem sie selbst ihre Emotionen offen ansprechen und eigene Reaktionen spürbar machen.
Die Relevanz Gleichaltriger für die soziale Entwicklung
Nicht nur Erwachsene prägen und beeinflussen die soziale Entwicklung von Kindern. Auch der Umgang mit Gleichaltrigen bietet vielfältige Lernerfahrungen und ergänzt die unmittelbaren familiären Erfahrungsmöglichkeiten. Das Interesse an einem gleichaltrigen Gegenüber ist bereits im frühen Säuglingsalter erkennbar. Der Säugling beobachtet einen anderen Säugling und reagiert auf dessen Anwesenheit. Mit Beginn des zweiten Lebensjahres spielen kleine Kinder nebeneinander (Parallelspiel), jedoch üblicherweise noch nicht gemeinsam. Dieser Zeitraum bietet erste Möglichkeiten des Kennenlernens von sozialen Regeln.
Erst im dritten Jahr begegnen sich Kinder auf der Basis kooperativen Spielens. Sie interagieren nicht nur miteinander, sondern planen ihre gemeinsame Zeit auch konkret. In dieser Phase entstehen die so wichtigen Fähigkeiten der Perspektivübernahme und der Bewältigung von Konflikten. Unterschiedliche Bedürfnisse werden miteinander in Einklang gebracht. Je sicherer die frühen Bindungen von Kindern, desto kompetenter sind sie im Umgang mit Gleichaltrigen. Gleichzeitig hilft das Zusammensein mit anderen Kindern, eventuelle Defizite aus Bindungserfahrungen zumindest partiell auszugleichen.