Bindungstypen und Auswirkungen auf das spätere Leben (Teil 1)
Die Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson, prägt das Kind für das gesamte weitere Leben. Wir erklären Ihnen, weshalb eine starke, sichere und vertrauensvolle Bindung zwischen Eltern und Kind so wichtig ist.
Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth
Bis ins 20. Jahrhundert wurde Eltern empfohlen, ihre Kinder einfach schreien zu lassen, um sie nicht so sehr zu "verhätscheln". Ein fatales Missverständnis, wie die Forschung später zeigen sollte. Babys schreien und weinen, weil sie ihre Gefühle noch nicht anders ausdrücken können. Das Baby möchte damit zu verstehen geben, dass es etwas braucht. Babys und Kleinkinder benötigen viel Liebe und Geborgenheit - erst dadurch können sie später zu selbstständigen und psychisch gesunden Erwachsenen heranreifen. Eine sichere Bindung zwischen Kind und Eltern sollte also das oberste Ziel sein. Doch was bedeutet Bindung überhaupt?
Bindung beschreibt die anhaltende emotionale Verbundenheit zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen, die sich in den ersten Lebensmonaten entwickelt. Eine sichere Bindung wird vor allem dadurch gestärkt, dass das Baby erkennt, dass es seinen Bezugspersonen vertrauen kann. Indem adäquat auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert wird, lernt das Baby, dass es sich auf andere verlassen kann. Die Grundbedürfnisse des Babys dürfen also keinesfalls vernachlässigt werden und das Schreien des Babys nicht ignoriert.
Dass die Bindung zwischen Kind und Bezugspersonen einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung von Kindern hat, stellte der Psychoanalytiker John Bowlby als Erster fest. Wie stark die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson ist, zeigt sich daran, wie sich Kinder in neuen Situationen verhalten. Ist das Kind sicher gebunden, zeigt es ein hohes Explorationsverhalten - d.h. es erkundet seine Umwelt und fühlt sich dabei sicher. Die Bezugsperson stellt hierbei idealerweise den "sicheren Hafen" dar, zu dem Kinder zurückkehren können, um ihre neuen Erfahrungen in Sicherheit zu verarbeiten. Mithilfe von Experimenten hat die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth Bowlbys Bindungstheorie praktisch getestet. Während ihrer Experimente konnte die Entwicklungspsychologin vier Bindungstypen feststellen.
Welche Bindungstypen gibt es?
Man unterscheidet zwischen vier Bindungstypen:
- Bindungstyp A: Unsicher-vermeidende Bindung
- Bindungstyp B: Sichere Bindung
- Bindungstyp C: Unsicher-ambivalente Bindung
- Bindungstyp D: Unsicher-desorganisierte Bindung
Mithilfe der vier Bindungstypen lassen sich allgemeine Aussagen über die emotionale Bindung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen ableiten. Sie beschreiben wie stark sich das Kind in neuen Situationen an der Bezugsperson orientiert (Bindungsverhalten) und wie selbstständig es seine Umwelt erkundet (Explorationsverhalten).
Bindungstyp A: Die unsicher-vermeidende Bindung
Circa 30 bis 40 Prozent aller Kinder zeigen dieses Bindungsmuster. In ihren Experimenten stellte Mary Ainsworth fest, dass unsicher-vermeidende Kinder kaum Bindungsverhalten zeigen, während das Explorationsverhalten stark ausgeprägt ist. Verlässt die Bezugsperson den Raum (wird das Kind also von der Bezugsperson getrennt), spielen die Kinder relativ "unbeeindruckt" weiter. Kehrt die Bezugsperson zurück, zeigen die Kinder kaum eine Reaktion oder ignorieren die Bezugsperson sogar. Auf den ersten Blick mag das harmlos und "pflegeleicht" erscheinen - allerdings löst die Trennung zur Bezugsperson bei allen Kindern eine Stressreaktion aus. Im Gegensatz zu sicher gebundenen Kindern wird unsicher-vermeidenden Kindern dieser Stress nach der Rückkehr der Bezugsperson jedoch nicht genommen. Das verursacht einen erhöhten Cortisol-Spiegel über mehrere Stunden hinweg.
Unsicher-vermeidende Kinder haben Schwierigkeiten darin, ihre Emotionen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen und diese mittels Bindungsverhalten zu bewältigen. Stattdessen ist ein ausgeprägtes Explorationsverhalten die einzige Kompensationsstrategie. Dieser verstärkte Fokus der Kinder auf die Außenwelt ist eine Anpassung auf das Verhalten der Bezugsperson. Häufig bieten Bezugspersonen unsicher-vermeidender Kinder wenig Nähe und Sicherheit an, da ihnen enger Körperkontakt eher unangenehm ist.
Folgen im Erwachsenenalter:
Ein unsicher-vermeidender Bindungsstil kann sich negativ auf die Entwicklung der Kinder und das spätere Erwachsenenleben auswirken. So zeigen sich unsicher-vermeidende Erwachsene häufig sehr distanziert und wenig bindungsorientiert. Sie möchten zwar eine Beziehung führen, gehen aber innerlich auf Abstand zum Partner, was häufig ein wenig paradox wirkt. Zu Beginn einer Beziehung wirken sie oft sicher und emotional verfügbar. Mit der Zeit ändert sich das jedoch und ihr Interesse an der Beziehung scheint abzunehmen.
Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil legen sehr viel Wert auf Autonomie und Selbstbestimmung. Sie wollen keine fremde Hilfe annehmen und alles selbst bewältigen. Auch wenn Autonomie und Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft als überwiegend positiv aufgefasst werden, kann ein Übermaß an Autonomie auch negative Konsequenzen haben: Das Risiko für Einsamkeit und soziale Isolation ist um ein Vielfaches höher. Der Mensch ist ein soziales Wesen und benötigt Bindungen für sein körperliches und psychisches Wohlbefinden. Einsamkeit hat gravierende Folgen für Körper und Seele: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlafstörungen, Depressionen und vieles mehr werden dadurch begünstigt.